16.10.2011
Österreich ist ein reiches Land. Heißt schon so. Reich ist auch die USA. Probleme mit der gerechten Verteilung der fetten Beute haben beide Länder gleichermaßen. Nun schwappt ein Trend von den Vereinigten Staaten um die Welt: empörtes Campieren.
An der Wall Street und vor den Banken, in den Metropolen der Welt empören sich Gegner der Finanzwirtschaft. Sie protestieren gegen das Glücksspiel auf dem Kapitalmarkt, das immer mehr Geld in die Taschen von immer weniger Menschen spült. So weit, so vernünftig. Take from the rich, give to the poor: löbliche Programmatik im Sinne ausgleichender Gerechtigkeit.
Weil sie schon dabei sind, gegen das Kapital in bizarr ungerechter Häufung zu protestieren, plärren die Megafone auch gleich in einem Atemzug gegen den Kapitalismus. Klingt fast gleich, kann nix Gutes sein. Protestökonomie. Da braucht keiner zwei Mal auf die Straße gehen, wenn sich’s in einem Aufwaschen erledigen lässt.
Hier beginnt ein gar nicht so kleiner Denkfehler, der vermutlich geeignet ist, der schönsten Protestbewegung den Boden zu entziehen. Den Boden der Mehrheitsfähigkeit, die street credibility. Neunundneunzig Prozent der Bevölkerung sollen es sein, die die Demonstranten vertreten. Eine satte Mehrheit, mit der heute nicht einmal mehr österreichische Parteivorsitzende gewählt werden. Das ist jetzt sehr amerikanisch-plakativ, weit unter der statistischen Schwankungsbreite in Richtung eh Alle. Eh Alle, das wären plusminus Hundert, Prozent, nämlich. Und gegen nix, niemanden nämlich, zu demonstrieren: eher, naja.
Sollte – spinnen wir das, was gerade anläuft, ein bisschen weiter – aus den vereinzelten Protesten eine Art größere weltweite Bewegung werden, könnten sich manche Regierungen tatsächlich ermutigt fühlen, Gesetze gegen finanzmarkttechnische Pyramidenspiele und den Glauben an exponentielles Wachstum zu beschließen. Zum eigenen Steuernutzen, versteht sich. Aber das ist schon OK so und macht vielleicht sogar Schule.
Wenn hingegen die feine Trennlinie zwischen Kapitalmarkt und Kapitalismus der Neigung von Demonstranten zu einem holzschnittartigen Weltbild geopfert wird, dann war’s ein nettes Fest jetzt. Campingurlaub in bester Innenstadtlage, danke, fein war’s, bis zum nächsten Mal. Aus die Maus und nix passiert.
Protest gegen Kapitalismus ist Protest gegen die einzige – aus heutiger Sicht funktionierende – wirtschaftliche Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die immer schon die Mehrheit auf ihrer Seite hatte. Wer Lust und Zeit hat, möge sich an dieser Stelle ein Alternativszenario ausdenken. Die Tatsache, dass die, die gegen Kapitalismus auf die Barrikaden steigen, aber anschließend in den Weltladen gehen und Fairtrade-Kaffee aus Mittelamerika einkaufen, zeigt die ganze Zerrissenheit der Leute, denen nicht ganz klar ist, gegen wen und was sie da vom Leder ziehen.
Im Übrigen hat Google vorhin, als ich die Worte „Kapitalismus“ und „Definition“ eingetippt habe, ein Ergebnis geliefert, das ich noch niemals von dieser Suchmaschine bekam: „Server Error“. Unheimlich, nicht? Wenn es Zeichen gibt – voilà! Das wär eins.
Die zweite Ungereimtheit, die mir das Wall Street-Pfadfinderlager suspekt macht, ist, dass auf vielen Photos aus aller Welt Leute mit Anonymous-Masken herum laufen. Wie das? Anonymous, das sind doch die – wahrscheinlich jungen – Leute, die hauptsächlich mit subversiven Hackaktionen gegen Staat, Politik und Überwachungswut auffallen. Ich dachte, es geht gegen Banken, Börse, Multis und andere Pfeffersäcke. Aber ändern, so richtig pragmatisch hergehen und was tun: Das kann nur die jeweils zuständige Regierung. Die es, zugegeben, geschehen hat lassen, dass ihr schneidige Finanzleute unauffällig Kontrollinstanzen entwunden haben wie der Vater seinem Sohn das Schnitzmesser entwindet, bevor der sich weh tut: Gib her da, Patscherl.
Und Anonymous? Liebe Regierung, wir haben gerade sensible Daten über eure Polizisten gehackt und ausgeplaudert. Und übrigens, wo wir gerade so schön beim Plaudern sind – wie wär’s damit, fette Steuern auf Finanztransaktionen einzuheben? Außerdem ist der Kapitalismus das Letzte. Geht’s noch?
Was haben wir? Eine Protestbewegung, die behauptet, eine fast vollständige Bevölkerungsmehrheit zu vertreten. Was ihr fehlt, sind zwei Dinge: mehrheitsfähige Inhalte und die Kooperation mit den Regierungen. Die nämlich stehen in der heutigen Situation ausnahmsweise auf der selben Seite des Zaunes wie die Demonstranten. Auch sie sind Geschädigte. Wenn man sie wissen lässt, dass sie neunundneunzig Prozent der Bevölkerung hinter sich haben, servieren sie Tobinsteuer an geeistem Grundeinkommen. Bedingungslos.
Stefan Peters