3.11.2011
Das Bildungsvolksbegehren ist heute angelaufen. Wäre der Text des Begehrens eine Deutsch-Schularbeit, wäre er nach oberflächlicher Durchsicht mit dem Vermerk „Themenverfehlung“ zurück gegeben worden. Denn was hier begehrt wird, ist keine Reform der Bildung.
Es geht um eine Reform der Schule als Institution. Genauer gesagt, um die Reform von Verwaltung, Personal, Lehrplänen und anderen Rahmenbedingungen.
Mit dem Prinzip Schule als Dienstleistungsoligopol lässt sich auch diese Initiative nicht ein. Mit Sich-Einlassen meine ich sehr grundsätzliche Forderungen zur Schaffung eines brauchbareren Bildungsbegriffs als des derzeit Gültigen.
Ja, ich habe das Volksbegehren auch unterschrieben. Nein, ich hatte nicht sonderlich viel Spaß dabei. Ich tat es, weil jeder Anstoß, den das System Schule in seiner Trägheit erleidet, die Chance zu Veränderung birgt. Und Veränderung braucht es.
Jeder Betrieb, der heute halbwegs erfolgreich ist, beschreibt sich selbst – ob zu Recht oder nicht – als lernende Organisation. Als Struktur, die aus Versuch und Irrtum ihre Innovationskraft bezieht. Im krassen Gegensatz dazu sieht sich die Schule, jedenfalls in ihrer Mehrheit, als lehrende Organisation. Klar aufgeteilt in Sender und Empfänger, in Lehrende und Schüler. Zwischen Ersteren und Letzteren gleiten auf mehr oder weniger schiefer Ebene, beschleunigt durch die Schwerkraft verordneter Autorität: Fakten. Unterweisung in Weltwissen. Schule ist, so gesehen, die letzte Bastion, die eine Illusion aufrecht erhält, die vor hundertfünfzig Jahren zuletzt umsetzbar war – die Idee vom Universalgelehrten, der alles Wissen seiner Zeit auswendig aufsagen kann.
Die Schule, ihr Personal, ihre Lehrbücher und Lehrpläne versprühen systemimmanent ein derart unverrückbares Dogma der Unfehlbarkeit, dass sich der Papst in Rom alle zehn Finger abschlecken würde, hätten seine Worte ein ähnliches Primat auf Wahrheit wie die eines österreichischen Hauptschullehrers.
Der nämlich – der Lehrer, nicht der Papst – irrt nie. Er irrt nie, weil er es nicht darf. Weil im Fall, dass sich Lehrer oder Lehrbuchautor oder gar die Lehrergewerkschaft als erratisch begabte Lebewesen exponierten, die Schule ihren bizarren Status als lehrende Organisation verlieren würde.
Heute, im 21. Jahrhundert, gibt es immer noch eine todsichere Methode, die Bildungschancen des eigenen Kindes auf dem Altar der Beschwerde zu opfern, indem man die fachliche oder didaktische Eignung des mit seinem Kind befassten Lehrpersonals in Zweifel zieht. Daran ist nicht der Lehrer Schuld. Verantwortlich dafür ist vielmehr ein rustikales Bildungsideal, das ex cathedra die lautere Wahrheit zu verkünden vorgibt.
Es ist so einfach, Faktenwissen als das zu enttarnen, was es tatsächlich ist: ein Kind seiner Zeit. Ich habe einmal den Vortrag eines prominenten Onkologen gehört, der bei dieser Gelegenheit sagte: „Fast alles, was ich vor vierzig Jahren in meinem Medizinstudium als letzte Wahrheit gelernt habe, würde man heute als lebensgefährlichen Blödsinn bezeichnen.“
Wenn also Faktenwissen heute zu einem großen Teil als Momentaufnahme gelten muss, die sich einen Moment später als unrichtig erwiesen hat, steht immer noch die Frage im Raum: Was ist Bildung? Was können, was müssen wir begehren, um unsere Kinder und Enkel in der Schulzeit auf ein erfolgreiches Leben vorbereiten zu lassen? Denn, um ehrlich zu sein: die Vorbereitung auf eine erfolgreiche Teilnahme an Trivial Pursuit oder anderen Wissensspielen allein rechtfertigt noch nicht den Aufwand, der an der derzeitigen AHS getrieben wird.
Im so genannten Bildungsvolksbegehren ist die Forderung nach der Förderung individueller Talente verankert. Gut so. Sehen wir uns doch einmal an, welche Talente im bestehenden Bildungssystem gefördert werden. OK, da wäre einmal das Talent, ein Maximum an auswendig gelerntem Faktenwissen auf Zuruf fehlerfrei in exaktem Wortlaut wiederzugeben. Quasi unverdaut. Junge Menschen mit diesem Talent bekommen dafür die besten Noten und die wenigsten Schwierigkeiten. Wenn diese jungen Menschen darüber hinaus auch noch das individuelle Talent besitzen, nur durch rege Mitarbeit, also vollinhaltliche Zustimmung zu allen Lehrinhalten, aufzufallen, dann ist für sie eine steile Bildungskarriere vorgezeichnet. Soviel zur Begriffsklärung des Schulsystems zum Thema „individuelle Talente“.
Doch ich will nicht ungerecht sein. Ich habe im Laufe meiner Schullaufbahn selbst eine beinahe enzyklopädische Kenntnis des Wiener AHS-Systems erlangt. Von einem Gymnasium, das seine Aufgabe in der Fortführung der Tradition österreichischer Kadettenschulen des 19. Jahrhunderts sah, bis zu einer bei meinem Eintritt neu eröffneten Oberstufenschule, in der wir in Kooperation mit dem sehr jungen Lehrkörper das System Bildung neu erfinden und experimentell durch Trial & Error an unsere Bedürfnisse anpassen durften. Dazwischen war graues Mittelmaß, dargebracht von ergrauten Lehrern in grauen Klassenzimmern.
Im einen Extremfall bot die Schule – mit dem selbst gewählten Präfix „Elite“ – einen inhaltlichen Service, der uns in etlichen Fächern innerhalb der ersten zwei Jahre auf Maturaniveau brachte. Im Extremfall am anderen Ende des Spektrums lernten wir, dass Haupt- und Nebenfächer individuell nach Begabungsschwerpunkten definiert werden, dass pädagogisch untalentiertes Lehrpersonal mit einem durchargumentierten Schülerbeschluss abgesetzt werden kann und dass Schule ein Ort ist, an dem Neugier und Engagement belohnt werden.
Hätte sich das Volksbegehren einen Bildungsbegriff auf die Fahnen geheftet, der den Weg von reiner Faktenakkumulation hin zu einer gemeinsam lernenden Institution fordert; mir wäre die Unterschrift um vieles leichter gefallen.
Stefan Peters